Dies ist der vollständige Text zu meiner Podcast-Episode 072 (da dieser auf der entsprechenden Webseite www.weg-zurueck-ins-leben.de nur teilweise ausgeschrieben ist.)
Pilgern – damals und heute
Dieses Jahr habe ich Jubiläum! Denn dieses Jahr ist es zehn Jahre her, seit ich das erste Mal auf dem Jakobsweg unterwegs war.
Zwar bin ich damit sicher kein Pionier und zehn Jahre sind auch sicherlich noch kein Zeitraum, bei dem es gerechtfertigt scheint, einen „Damals-und-Heute-Vergleich“ zu ziehen.
Dennoch denke ich jedes Mal, wenn ich in den letzten Jahren mal wieder auf einem der verschiedenen spanischen Wege unterwegs war, an meinen ersten Camino zurück und daran, wie sich seitdem nicht nur in der Welt, sondern auch auf dem Camino einiges verändert hat. Meine Gedanken dazu möchte ich gerne mit Dir teilen.
Folgendes sind die 3 Veränderungen, die mir am meisten auffallen:
- Das Pilgern auf dem Jakobsweg erfreut sich steigender Beliebtheit, deshalb sind zunächst einmal die gestiegenen Pilgerzahlen das Augenscheinlichste:
Seit 2006 hat – Hape Kerkeling sei Dank – ist die Zahl der in Santiago de Compostela ankommenden Pilger sprunghaft angestiegen[1]. Auch ich bin einer von denen, die sich bald nach der Lektüre seines Buch „Ich bin dann mal weg“ auf den Weg machten.
Während 2007 „nur“ etwas über 114 Tsd. Pilger in Santiago registriert wurden, waren es 2016 mit knapp 278.000 Pilgern bereits fast 2,5 Mal soviele.
Nach wie vor kommt die überwiegende Mehrheit der Pilger aus Spanien, aber während Deutschland 2007 noch auf dem 2. Platz rangierte, kamen 2016 mehr Pilger aus Italien als aus Deutschland.
Während aber 2007 etwa 80% der Pilger auf dem Französichen Weg unterwegs waren, waren es 2016 nur noch 63 % – absolut gesehen waren es aber immer noch beinahe doppelt soviele! Kein Wunder, dass viele Pilger inzwischen – um dem ganzen „Rummel“ zu entgehen – auf die Nebenstrecken ausgewichen sind. So rangiert der Camino Portugues mittlerweile mit 18 % auf Platz 2 der Beliebtheitsskala (zurecht übrigens, wie ich finde, ich mag ihn auch sehr).Aber auch wenn Du es lieber einsam beim Pilgern magst, gibt es noch genügend Möglichkeiten für Dich, z. B. auf dem (kurzen) Camino Inglés oder der (sehr langen) Via de la Plata.Dementsprechend hat natürlich in den letzten Jahren auch die Anzahl der zur Verfügung stehenden Unterkünfte rasant zugenommen – sowohl die der „offiziellen“ wie auch die der privaten Pilgerherbergen. Zum Glück! - Damit sehr eng zusammen hängt dann der zweite große Unterschied, der mir ins Auge fällt: Das Internet hat auch vor dem Jakobsweg nicht Halt gemacht. Wieso sollte es auch, er ist ja nicht aus dieser Welt…
2007 traf ich auf dem Camino eine ziemlich große Anzahl von Menschen, die mir berichteten, sie hätten ihr Mobiltelefon ganz zu unterst in ihren Rucksack gesteckt und mir rieten, ich solle das doch auch tun. Damals war ich von dem Vorschlag nicht so begeistert, wie ich in einer Anekdote in meinem Buch Burnout – Vom Jakobsweg zurück ins Leben beschrieben habe.
Den Jakobsweg als bewußte Auszeit vom Alltag zuhause zu nutzen und den gegenwärtigen Moment bewußt und mit allen Sinnen wahrzunehmen und zu genießen war mir in meiner damaligen Situation, als ich lieber mit den Gedanken schon zehn Schritte im Voraus war, noch nicht möglich. Heute wünsche ich mir mehr solche Momente, denn ich habe gemerkt, dass ich damals nie wirklich irgendwo wirklich „angekommen“ bin.
Heute erscheint mir ein solcher Rat, wie ich ihn damals erhielt, allerdings undenkbar! Nicht nur ist das Vorhandensein von WLan und Computer mittlerweile für viele Menschen ein Auswahlkriterium für Cafés, Restaurants und Unterkünfte geworden – auch auf die Bewertungen in verschiedenen Portalen wird zunehmend geachtet. Darüber hinaus ist es heute gang und gäbe, vorab in manchen Unterkünften Zimmer bzw. Betten zu reservieren. Auch ich muss gestehen, dass ich mich im April – es war völlig überlaufen in der Karwoche! – auf dem Camino Inglés in einem Ort einen Tag vor Santiago ohne öffentliche Herberge von einigen Pilgerkollegen habe kirre machen lassen. Als ich ihm auf seine Frage, in welcher Unterkunft ich übernachten würde, antwortete: „Keine Ahnung, werde ich dann schon sehen“, schaute er mich entgeistert an und meinte, ich müsse unbedingt irgendwas reservieren, weil manche Herbergen schon seit Tagen ausgebucht seien. Nun ja, wie sich herausstellte, war es für mich als Einzelreisende kein Problem, aber in Gruppen ab 2-3 Personen schon nicht mehr so einfach…
Vor 10 Jahren habe ich das deutlich anders erlebt. Zum einen steckten diverse Bewertungs-portale noch in den Kinderschuhen, so dass man sich wenn es überhaupt eine Auswahl gab, eher an der Auswahl im Reiseführer orientierte. Oder man freute sich auf das, was kam und nahm es wie es war. Wenn auch manchmal nur mit Murren. Wenn es einen öffentlichen Computer gab, musste man (wie bei den Duschen auch) früh dran sein – oder halt etwas warten, wenn man in Kontakt mit „der Welt da draußen“ bleiben wollte. - Als ich letztes Jahr oder Ostern dieses Jahr Pilgern war, traf ich etliche Menschen, die ihr Handy als Navigationsgerät benutzten. Was mich persönlich ziemlich belustigt hat, denn an den meisten Stellen ist ja der Weg recht gut mit gelben Pfeilen und/oder Muschel-Schildern markiert, die auch recht gut zu sehen sind, wenn man mit einigermaßen offenen Augen durch die Gegend läuft. Alternativ kann man ja meistens auch noch jemanden fragen, das hat den Vorteil, das man vielleicht mit netten Menschen in Kontakt kommt und ein schönes Gespräch führen kann. So hatte ich mitunter den Eindruck, dass manch ein Pilger vor lauter Selfies, Navi und Facebook gucken genau das verpasst hat, was sich ihm unterwegs an schönen Augenblicken und Gesprächen so geboten hat: Das Leben & die Gegenwart.
An einem Tag hab ich mich sogar in Santiago eine Weile auf einen Platz in der Nähe der Kathedrale und Leute beobachtet. An mir vorbei führte die „Schlussetappe“ des Jakobsweges – nur noch 100 m trennte die einlaufenden Pilger vom Kilometer Null auf der Plaza de Obradoiro.
Eine Frau, ich glaub sie war Japanerin, war so damit beschäftigt, den Moment ihres Einlaufens per Selfie-Video festzuhalten und dabei einen guten Eindruck zu machen, dass sie sich vermutlich später an das bunte Treiben oder ihr Gefühle nicht mehr erinnern wird. Denn die werden auf dem Video mit Sicherheit nicht zu sehen sein.
Natürlich kann und soll jeder für sich entscheiden, ob und in welchem Umfang er Handy & Internet auf seinem Pilgerweg nutzen möchte. Manchmal, v.a. in Notsituationen, sind Mobiltelefone ja auch lebensrettend. In vielen Situationen aber eben auch nicht.
So finde ich, dass eine Pilgerwanderung auch eine gute Gelegenheit sein kann, sein Alltags- und Konsumverhalten durch eine bewusste Unterbrechung mal einer kritischen Beobachtung zu unterziehen.
Abschließend möchte ich noch ergänzend, dass es sich hierbei nicht um eine Wertung, sondern lediglich um meine persönlichen Beobachtungen und Reflexionen handelt. Es gibt nichts auf dieser Welt, auch nicht das Internet, das nur Vor- oder nur Nachteile hat.
Wie bist Du auf dem Jakobsweg unterwegs (gewesen) – und wie gehst Du durch Dein Leben?
So finde ich es besonders spannend zu schauen, ob Du bestimmte Parallelen findest, wenn Du Dich dieser Frage widmest – oder eben genau das Gegenteil findest. Noch interessanter finde ich die Frage, ob Du mit dem, was Du unterwegs erlebst, glücklich bist.
Wenn ja, wunderbar. Wenn nein – ist das evtl. eine gute Gelegenheit, eine kleine Veränderung auf Deinem Weg vorzunehmen.
Nun freue ich mich mit dieser Frage auf eine angeregte Diskussion zu dem Thema!
[1] Alle in diesem Absatz genannten Daten siehe: http://www.pilgern.ch/jakobsweg/statistik.htm,
auf Basis der Daten des Pilgerbüros in Santiago von 2013, S. 2 & 7