Einladung zur Silvesterfeier: Über den Dächern von München, seid ihr dabei? Wir feiern auf einer Dach-terrasse im was weiss ich wievielten Stockwerk mit Blick auf den Olympiapark und auf die unter uns fliegenden Silvesterraketen. Mit leckerem Finger-Food (jeder bringt was mit), Wein, Cocktails und natürlich Champagner zum Anstossen. Mit vielen verschiedenen bekannten und unbekannten Gesichtern, ein bunter internationaler Haufen.
Klingt unrealistisch? Wie aus einer anderen Welt? Nö, ist erst ein knappes Jahr her. Es war Silvester 2019/2020. War ’ne grossartige Feier. Wer hätte damals gedacht, dass dies der Beginn eines so unwahr-scheinlich schrägen Jahres werden würde? Ein Jahr, das vermutlich die meisten Menschen, die ich kenne, als das Gegenteil von großartig bezeichnen würden. Ich ehrlich gesagt nicht.
Jahresplanung
Dabei hätte ich es eigentlich schon ahnen müssen. In dem Moment, wo mein Partner durchblicken liess, dass er (nach vielen Jahren gemeinsamen Jahresanfangs-Ritualen) dies Jahr keine Lust hätte, wieder eine gemein-same Jahreszielcollage zu machen. Es wäre ja eh immer nur jedes Jahr das gleiche drauf.
Nun gut, so machte ich eben meine eigenen Ziele und Pläne… und das Jahr nahm seinen Lauf. Arbeit, Urlaub buchen (er stand auf meiner Ziele-für-2020-Liste), Wochenend-Seminare, Geburtstag, Teilnahme an zwei Reise- bzw. Pilgermessen, weitere Urlaubspläne schmieden. Bis zum 28. Februar noch so weit alles normal.
Doch dann verstarb am Abend plötzlich und unerwartet mein Schwager mit 47 an einem Herzinfarkt. So mitten aus dem Leben. Gleichzeitig klingt es beinahe wie aus einer anderen Zeit, dass zum Anlass seiner Beerdigung eine Woche die Kirche bis über den letzten Platz hinaus besetzt war. Denn an Abstandhalten dachte im März noch niemand. Wie auch, in einer Situation in der man üblicherweise seine eigene Betroffen-heit und Fassungslosigkeit mit Umarmungen und körperlicher Nähe zu kompensieren versucht. Wir witzelten noch am gleichen Tag, dass bei etlichen Hunderten Anwesenden eine Kontaktverfolgung schwierig werden würde, wenn nur ein einziger Corona bekäme. Nun ja, das passierte zum Glück zwar nicht, dafür schaffte es dank dem 120 km entfernten Ischgl das österreichische Bundesland Tirol (in dem die Beerdigung statt-gefunden hatte) trotzdem auf die rote Liste des RKI – und mein Chef schickte mich, eine Woche vor allen anderen, ins Homeoffice.
Das war der Tag, an dem das böse C-Wort das erste Mal einen direken Einfluss auf mein Leben hatte, und deshalb erinnere ich mich noch wie heute daran. Seit diesem Tag nahm das Jahr – mit exponentieller Geschwindig-keit seinen rasanten Lauf – nicht ohne vorher in einen anderen Modus zu wechseln. Immerhin – mittlerweile dürften die meisten von uns die Bedeutung und Verlauf einer exponentiellen Kurve verstanden haben, die es im Frühjahr galt abzuflachen*.
Nach den Fake-News der letzten drei Jahre entwickelten sich in diesem Jahr auch völlig neue Wortkreationen – oder sollte ich besser sagen: Unwort-Kreationen? Wer von uns hätte zu Neujahr gedacht, dass Mund-Nase-Bedeckungen zu einem modischen Accessoir avancieren würden oder Trikinis der Schrei des Sommers würden? Auch von dem Wort Systemrelevant hatte man vorher wohl noch so recht nicht gehört – schade, dass die exponentielle Verbreitung des Wortes keine wirkliche Auswirkung auf die allgemeine und v.a. auch finanzielle Anerkennung all jener Berufe hatte, die 2020 den Laden am Laufen hielten (angefangen bei medizinischem Personal über Supermarkt-Mitarbeitenden, Lieferdienst-Beschäftigten und nicht zuletzt all jene, die immer dann Dienst taten, wenn es wörtlich wie im übertragenen Sinne brannte). Und der Gründer der Community für Innovatoren, Kreative, Entscheider und Macher namens Querdenker United, Othmar Ehrl, würde sich wahrscheinlich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, in welche Richtung andere seine Denk-richtung verbogen hätten.
Wer – wie ich – Meister oder Meisterin der Planung ist, durfte dieses Jahr lernen, das Leben in seiner ganzen Unverbindlichkeit und Unplanbarkeit zu genießen. Was logischerweise schwerfällt (das Genießen), wenn das, wie bei den meisten, mit zahlreichen Stornos einhergeht: Urlaubsreisen, Auftritte, Aufträge, Feiern und andere Veranstaltungen. Wer kennt ihn nicht, diesen wohl in diesem Jahr häufig zitierten Satz: „Ich würde gerne mal wieder … – wenn die Umstände es zulassen“. Oder: der Satz der Kapitulation: „Ich hab schon aufgehört zu planen, nach all den viele Absagen.“
Und so wird 2020 vermutlich als das Jahr des Konjunktivs in die Geschichte der Menschheit eingehen. Liebes 2020, ich glaub, Du hast da was verwechselt. Ist der Konjunktiv nicht statt einem Ding der Unmöglichkeit nicht eigentlich die Möglichkeitskeitsform?
Gab es vielleicht doch ein paar Möglichkeiten und Chancen in diesem Jahr?
Ich finde, ja. Zum Beispiel gab es die Möglichkeit die eigene Heimat kennenzulernen (ich zum Beispiel hab im Umkreis von 25-30 km doch tatsächlich noch ein paar schöne Ausflugsziele entdeckt, die ich noch nicht kannte). Oder die Möglichkeit, sich im Umgang mit digitalen Plattformen mehr auseinander zu setzen. Oder den Wert einer schönen Wohnung, eines schönen Gartens neu zu entdecken.
Auch hätte die Chance bestanden, dass Deutschland Fortschritte in Bezug auf die Digitalisierung macht (da war er wieder, der Konjunktiv…). Haben wir sie genutzt, die Chancen? Das ist sicherlich individuell sehr unterschiedlich. So manch einer entwickelte komplett neue Geschäftsideen, und wenn ich mir die Fotos einiger Bekannter auf Facebook so anschaue, hat so mancher Single-Mann aufgrund von geschlossenen Restaurants dieses Jahr immerhin kochen gelernt.
Was ist nun mein persönliches Fazit des Jahres 2020?
Nun, ich bin mir noch nicht abschließend sicher, wessen ich mir aber sicher ist, ist, dass Veränderung anstrengend ist. Und zwar umso anstrengender, je mehr man sich gegen sie wehrt. Und gleichzeitig steckt auch in jeder Krise eine Möglichkeit (nein, ich schreibe jetzt nicht über das chinesische Schriftzeichen, denn das hab ich schon hier getan). Denn es reicht, wenn man ein paar Worte englisch beherrscht. Denn um von der Veränderung (CHANGE) zur Möglichkeit (CHANCE) zu kommen, muss man nur am G ein kleines j wegmachen. Und am besten aus diesem kleinen j ein ganz großes JA machen.
Deswegen möchte ich mit einem englischen Zitat abschließen (leider ist es nicht gut ins Deutsche zu über-setzen).
“Nothing is impossible the word itself says “I’m possible.” (Audrey Hepburn)
Nehmen wir also die sich uns stellenden Herausforderungen des Lebens an. Nutzen wir sie, um daran zu wachsen. Machen wir was draus. Und freuen wir auf das kommende Jahr. Ich glaube, mein Schwager wäre froh gewesen, hätte er (an dieser Stelle ist der Konjuktiv leider eine Unmöglichkeitsform) diese Chance gehabt.
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* Ok, das nehme ich teilweise gleich wieder zurück, denn wenn man sich den einen oder anderen Kommentar in den sozialen Medien so durchliest, scheint es wohl doch etliche Menschen zu geben, die die Bedeutung und den Sachverhalt, der hinter der Linie steckt, unter die die Kurve abgeflacht werden sollte, nicht verstanden zu haben… Aber das soll hier gar nicht weiter das Thema zu sein.
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